Im ersten Teil dieser Reihe haben wir beleuchtet, wie aus einem schottischen Entwicklerstudio und einem Label bei Take-Two das wurde, was heute zu den einflussreichsten Namen der Spielebranche zählt: Rockstar Games. Wir sprachen über den Ursprung in Dundee, die Transformation von DMA Design zu Rockstar North und die Gründung des Rockstar-Labels in New York. Doch das war nur der Anfang. Was folgte, war ein Aufstieg voller Kontroversen, kreativer Meilensteine und strategischer Studiozukäufe, die das Fundament einer globalen Marke legten.
Das erste Jahrzehnt – Zwischen Skandal und Innovation
Nach dem Erfolg von Grand Theft Auto III (2001) veränderte sich die Wahrnehmung von Rockstar Games drastisch. Sie galten nicht mehr nur als „die mit dem Verbrecherspiel“, sondern als Pioniere eines neuen Genres. Vice City (2002) und San Andreas (2004) bauten diese Formel weiter aus, jedes Spiel mit eigenem Stil, Soundtrack, Zeitgeist. Dabei war der Einfluss von Popkultur ebenso wichtig wie das technische Feintuning der Open-World-Mechanik.
Was viele nicht wissen: Während der Entwicklung von San Andreas wurde intern bereits an einem neuen Rendering-System gearbeitet, das später Grundlage für GTA IV und Red Dead Redemption werden sollte. Rockstar wollte nicht nur Geschichten erzählen, sondern virtuelle Welten erschaffen, die atmen. Viele dieser Innovationen basierten auf einer langfristigen technischen Strategie, bei der vor allem das Zusammenspiel der verschiedenen Studios eine entscheidende Rolle spielte.
Abseits der millionenschweren GTA-Serie bewies Rockstar Mut zur Vielfalt: Midnight Club (ab 2000) etwa etablierte sich als Alternative zu Need for Speed – mit illegalen Straßenrennen durch realistisch gestaltete Städte und einem ausgeprägten Tuning-System. Die Serie erhielt vier Hauptteile (Midnight Club, Midnight Club II, Midnight Club 3: DUB Edition, Midnight Club: Los Angeles) und wurde vor allem in den USA zum Kult. Technisch überzeugten sie mit dynamischer Lichtsimulation und offen befahrbaren Städten. Nach 2009 verschwand die Serie – wohl wegen veränderter Markttrends.
State of Emergency (2002), das ursprünglich als politische Parabel über Konzerndiktatur und Massenüberwachung geplant war, entwickelte sich im Laufe der Entwicklung zu einem simplen, chaotischen Actionspiel. Statt subtiler Gesellschaftskritik dominierte letztlich reines Gameplay-Chaos mit prügelnden Menschenmassen und randalierenden Spielfiguren. Technisch beeindruckte das Spiel mit einer enormen Anzahl an NPCs auf dem Bildschirm, inhaltlich blieb es jedoch oberflächlich. Trotz durchwachsener Kritiken war der Titel kommerziell erfolgreich – vor allem durch das Rockstar-Branding, das nach dem Erfolg von GTA III große Strahlkraft besaß.
Ein weiteres Experiment war Manhunt (2003): ein düsteres Stealth-Spiel, das den Spieler in die Rolle eines unfreiwilligen Snufffilm-Protagonisten steckte. Stilistisch einzigartig und technisch mutig, sorgte es weltweit für Kontroversen – und wurde in mehreren Ländern zensiert oder verboten. Der Einsatz von Überwachungskameras als Spielelement, die kalte Soundkulisse und die drastische Gewaltdarstellung machten es zu einem der umstrittensten Spiele seiner Zeit. Trotzdem (oder gerade deshalb) erschien 2007 mit Manhunt 2 ein Nachfolger, der ähnlich polarisierte, allerdings etwas weniger Gameplay-Innovationen bot. Während Kritiker das Spiel teils als geschmacklos verurteilten, lobten andere den konsequenten Stil und den Mut, ein solch kompromissloses Werk zu veröffentlichen – etwas, das kaum ein anderer Publisher gewagt hätte.
Mit Bully (2006) betrat Rockstar erneut Neuland. Statt Gangkriminalität oder Großstadtchaos drehte sich das Spiel um einen Teenager in einem britisch-amerikanischen Internat, samt Schulprügeleien, Unterricht und Internatsalltag. In manchen Ländern wurde der Titel gar als „Schulmobbing-Simulator“ bezeichnet. Dabei war das Spiel spielerisch vielseitig, voller Humor und gesellschaftlich relevanter als sein Ruf – es thematisierte soziale Klassen, Mobbing, Lehrerwillkür und das Erwachsenwerden. Heute gilt es als einer der unterschätztesten Rockstar-Titel, mit bis heute noch aktiven Fan-Communities.
Auch Beaterator (2009), ursprünglich ein Flash-Musiktool, wurde für die PSP neu aufgelegt. In Zusammenarbeit mit Timbaland konnten Spieler hier Beats bauen und Songs mixen. Das User Interface war professionell gestaltet, bot aber auch Einsteigern einfache Wege zur Musikproduktion. Ein ungewöhnlicher Schritt, der Rockstars Interesse an Musikproduktion und Szene-Kultur unterstrich – fernab der sonstigen Blockbuster-Mentalität.
Einen besonderen Fall stellt Red Dead Revolver (2004) dar: Das Spiel war ursprünglich von Capcom begonnen und sollte ein klassisches Western-Actionspiel werden. Nach internen Problemen übernahm Rockstar San Diego das Projekt und formte daraus eine Mischung aus Western-Pulp und Arcade-Shooter. Es war stilistisch eine Hommage an Spaghetti-Western, mit überzeichneten Charakteren und Level-basiertem Fortschritt. Der Titel wurde zwar nur mäßig erfolgreich, legte aber den Grundstein für Red Dead Redemption.
Ab 2002 begann Rockstar auch mit der Veröffentlichung der Max Payne-Serie (entwickelt ursprünglich von Remedy Entertainment), wobei Teil 2 (The Fall of Max Payne, 2003) intern mitentwickelt und später auch von Rockstar New England technisch unterstützt wurde. Die Serie glänzte mit einer düsteren Noir-Ästhetik, inneren Monologen im Comic-Stil, Bullet Time und filmreifer Inszenierung. Max Payne war nicht nur ein Spiel, sondern eine stilistische Blaupause für kommende Third-Person-Shooter.
Diese Diversifikation war kein Zufall. Für Rockstar war klar: Wer eine Marke sein will, darf nicht nur eine Geschichte erzählen. Stattdessen wollten die Housers ein Portfolio schaffen, das stilistisch unterschiedlich, aber atmosphärisch einheitlich war – roh, provokant, ungeschliffen. Genau darin lag die Stärke.
Die Studios hinter dem Mythos – Rockstar wird ein Netzwerk
Doch der Rockstar-Erfolg basierte nicht allein auf North. Schon früh setzte man auf ein dezentrales Netzwerk von Studios. Manche davon wurden eigens gegründet, andere übernommen und integriert. Hier einige der wichtigsten:
Ursprünglich unter dem Namen Tarantula Studios 1999 gegründet, wurde es 2002 in Rockstar Toronto umgewandelt. Sie entwickelten The Warriors (2005), das als Kultspiel gilt, aber nie ein Kassenschlager wurde. Auch an den Manhunt-Teilen waren sie beteiligt. Toronto spezialisierte sich auf technische Unterstützung, Ports und Konsolenversionen – etwa für Max Payne 2. Später half man auch bei der PC-Version von GTA IV.
Hervorgegangen aus Barking Dog Studios, die zuvor u.a. an Homeworld: Cataclysm und Counter-Strike mitarbeiteten. Nach dem Kauf 2002 brachte man Bully (2006) hervor, ein Spiel, das für Diskussionen sorgte – aber bis heute zu den originellsten Titeln der Marke zählt. Die Studioleitung betonte wiederholt die kreative Freiheit, die sie bei Rockstar genossen – allerdings auch unter einem hohen Leistungsdruck. Später wurde Vancouver in das größere Rockstar Toronto integriert.
Entstanden aus Möbius Entertainment und übernommen 2004. Leeds wurde zum Handheld-Spezialisten und entwickelte GTA: Liberty City Stories, Vice City Stories und Chinatown Wars. Letzteres überzeugte mit Cel-Shading-Stil, Drogendeal-Gameplay und innovativer Touchscreen-Nutzung auf dem Nintendo DS – ein Meilenstein für mobile Spiele. Leeds war auch wichtig für die spätere Umsetzung von Spielen auf iOS.
Arbeitete zunächst an Ports und war in die Entwicklung von Manhunt 2 involviert, bevor das Studio 2006 plötzlich geschlossen wurde – kurz vor der Fertigstellung des Spiels. Der Schritt gilt bis heute als umstritten, zumal zahlreiche Entwickler am Tag der Schließung von der Maßnahme überrascht wurden. Ihre Arbeit floss später in andere Rockstar-Teams ein.
Früher Angel Studios, wurde 2002 übernommen. Ihr technisches Know-how war entscheidend für die Entwicklung der RAGE-Engine (Rockstar Advanced Game Engine), die erstmals mit GTA IV (2008) eingesetzt wurde. Schon zuvor verantworteten sie Serien wie Midnight Club und Red Dead Revolver – letzteres war der Ursprung für Red Dead Redemption (2010). San Diego entwickelte sich rasch zum technologischen Kern von Rockstar.
Vor der Übernahme 2008 bekannt als Mad Doc Software. Das Studio hatte sich mit Strategiespielen wie Star Trek: Armada II einen Namen gemacht. Bei Rockstar war New England primär für AI- und technische Backend-Entwicklung zuständig, unter anderem für Bully: Scholarship Edition und Max Payne 3. Sie waren entscheidend an der Verbesserung von Gegnerverhalten und physikalischen Reaktionen beteiligt.
Bereits 1999 als Teil von Take-Two UK gegründet, wurde das Studio später in Rockstar Lincoln umbenannt. Hauptaufgabe: Qualitätssicherung, Testing und Lokalisierung. Lincoln ist das unsichtbare Rückgrat vieler Rockstar-Titel und sorgt dafür, dass Spiele weltweit fehlerfrei erscheinen. Besonders bei komplexen Multi-Plattform-Releases spielte Lincoln eine Schlüsselrolle. Auch die Lokalisierung in über 10 Sprachen koordinierte das Studio.
Die RAGE-Engine – Das technische Rückgrat von Rockstar
Die Rockstar Advanced Game Engine (RAGE) ist eines der wichtigsten Instrumente für den Erfolg von Rockstar Games. Entwickelt ab Mitte der 2000er-Jahre durch Rockstar San Diego, wurde sie erstmals 2006 in einem Teil von Rockstar Games Presents Table Tennis verwendet und fand ihren großen Durchbruch mit GTA IV (2008). Für seine früheren Spiele verließ sich Rockstar hauptsächlich auf die RenderWare-Engine, begann aber mit der Arbeit an einer eigenen Engine, als der Engine-Entwickler Criterion Studios 2004 von Electronic Arts übernommen wurde.
RAGE ermöglichte eine realistische Physik, komplexe Animationen, dynamisches Wetter und eine offene Welt, die nahtlos und ohne Ladezeiten funktionierte – und das erstmals auf der damals neuen Konsolengeneration (Xbox 360, PS3). Die Engine wurde stetig weiterentwickelt, u.a. mit Euphoria (für dynamische Charakteranimationen) und NaturalMotion.
Mit Red Dead Redemption, Max Payne 3, GTA V und Red Dead Redemption 2 erreichte die RAGE-Engine jeweils neue technische Höhen. Besonders die Kombination aus Cinematic Storytelling und physikalisch glaubwürdigen Open-World-Systemen setzte neue Maßstäbe. Auch im Hinblick auf Plattformoptimierung – von PS3 bis PC – bewies Rockstar mit RAGE eine außergewöhnliche technische Flexibilität.
Die RAGE-Engine ist bis heute das Fundament sämtlicher AAA-Titel von Rockstar Games. Ihr modularer Aufbau ermöglicht ständige Weiterentwicklung – sei es für neue Hardware, neue Physiksysteme oder Online-Funktionalität wie bei GTA Online. Ohne RAGE wäre der heutige Rockstar-Standard nicht denkbar.
Kontroversen als Markenzeichen – Von Hot Coffee bis Manhunt
Rockstar spielte stets mit Grenzen. Die Hot Coffee-Mod in San Andreas löste 2005 einen medialen Aufschrei aus, führte zu Klagen und einer Änderung der Altersfreigabe. Dennoch – oder gerade deswegen – stieg die Popularität. Ähnlich provokativ: Manhunt (2003) und sein Nachfolger, die weltweit teils zensiert oder indiziert wurden. Aber für Rockstar war klar: Man wollte keine seichte Unterhaltung machen.
Diese Gratwanderung zwischen Provokation und Innovation wurde zum Markenkern. Hinter den Kulissen führte dies jedoch auch zu Spannungen: Mehrere ehemalige Entwickler berichteten in Interviews von hohem Druck, langen Arbeitszeiten und einem elitären Führungsstil – insbesondere rund um Sam Houser.
Fun Facts und unbekannte Details
- Bully trug während der Entwicklung den Arbeitstitel Canis Canem Edit – ein ironischer Verweis auf den schulischen Mobbing-Kontext.
- Die ersten Zeilen für Red Dead Redemption wurden bereits 2005 geschrieben – lange vor der eigentlichen Entwicklung.
Rockstar Games betreibt ein eigenes Musiklabel namens Circoloco Records und setzt stark auf exklusive Soundtracks, teils mit Originalsongs für fiktive Radiosender.
- GTA: San Andreas enthält zahlreiche Popkultur-Anspielungen auf Boyz n the Hood, Menace II Society und Scarface.
- Chinatown Wars war ursprünglich als iOS-exklusiver Titel geplant, wurde aber später auf PSP portiert.
Zwischen 2002 und 2010 entwickelte sich Rockstar von einem Publisher mit einem starken Studio zu einem Markennetzwerk mit eigener Identität. Jeder Titel war ein kulturelles Ereignis, jeder Schritt wurde mit Argusaugen verfolgt. Doch der eigentliche Höhepunkt stand noch bevor.